Sign of the times
- Verena
- 18. Feb. 2021
- 4 Min. Lesezeit
Das sind die mit Abstand persönlichsten Zeilen geworden, die ich vermutlich bis jetzt je öffentlich geschrieben habe - ich möchte alle die das lesen bitten respektvoll damit umzugehen. Auch möchte ich eine Triggerwarnung voranstellen. In den nachfolgenden Zeilen wird es unter anderem auch um Suizid gehen.
Meine Brust zieht sich zusammen. Für einen Moment bekomme ich schlecht Luft. Ich spüre wie meine Augen feucht werden und sich Tränen sammeln um dann langsam mein Gesicht hinunterlaufen. Mit dem Verstand habe ich noch gar nicht erfasst was gerade geschieht. Aus meinem Handy höre ich eine männliche Stimme die
"Welcome to the final show
Hope you're wearing your best clothes" singt
im nächsten Moment stehe ich an einem heißen Junitag 2014 in unserer Pfarrkirche und höre mich vor der versammelten Trauergemeinde am Begräbnis meines Vaters das Gedicht "Der Tod ist nichts" von Henry Scott Holland vorlesen. Für diesen Anlass habe ich mir extra ein schönes neues, schwarzes Kleid gekauft. Vielleich habe ich das getan um mich etwas von dem Wahnsinn abzulenken der sich die Tage zuvor abgespielt hat - Einkaufen hat mir zu dieser Zeit noch ein beruhigendes, angenehmes Gefühl bereitet.
Doch das war war nicht der einzige Grund, irgendwie hatte ich das Gefühl mich an diesem Tag besonders feierlich und hübsch anziehen zu wollen um meinen Vater gebührend zu verabschieden. Interessanterweise habe ich auf die Auswahl dieses Kleides mehr Zeit und Aufmerksamkeit gelegt und auch mehr Geld ausgegeben als für mein Hochzeitskleid, dass ich nur ein paar Tage zuvor getragen habe.
Vermutlich habe ich das Lied schon ein paar Mal im Radio gehört ohne es bewusst wahr zu nehmen. Doch gestern war irgendwas anders. Dieses Lied hat so viele Emotionen ausgelöst und Erinnerungen hervorgerufen wie es mir selten passiert ist - und ich sage das als jemand dem Musik generell sehr wichtig ist. Bis gestern habe ich Harry Styles nicht gekannt und ich wusste auch nicht, dass das Lied um das es hier geht "Sign of the Times heißt".
Ich habe das Lied dann ungefähr 10-15 Mal gehört und dabei geweint - und das obwohl ironischerweise der Sänger Styles in dem Lied mehrmals auffordert: "Just stop your crying - ...aber das hat auch nicht geholfen.
Es war eine Mischung aus sentimentalen, schmerzhaften und auch befreienden Tränen. Die Textzeilen aus dem Lied haben mit jedem Mal, dass ich gehört hab, mehr Sinn für mich ergeben - es sind nicht nur die oben bereits erwähnten Zeilen die mich getroffen und an meinen Papa und seinen Tod erinnert haben - es ist eigentlich das ganze Lied, dass mich in die Zeit und die damit einhergehenden Ereignisse und Gefühle versetzt hat.
Just stop your crying
It's a sign of the times
We gotta get away from here
We gotta get away from here
Stop your crying
Baby, it'll be alright
They told me that the end is near
We gotta get away from here
Mein Vater hat sich dazu entschlossen sein Leben selbst zu beenden. Er hat keinen Abschiedsbrief hinterlassen und somit bleiben seine Beweggründe ein Geheimnis, das er in sein Grab mitgenommen hat. Was ich weiß ist, dass er jemand war, der starke Schmerzen, Diabetes, Schlafprobleme, vermutlich Depressionen und Angst vor Krebs und Demenz hatte - die beiden letzteren Krankheiten treten nämlich gehäuft in seiner Familie auf. Manchmal glaube ich, dass er so eine Angst vor Krankheit und Tod hatte, dass er sich ständig so gefühlt hat, als ob das Ende schon nah wäre. Mein Vater hatte sehr schwer mit der Demenz seines eigenen Vaters und die damit einhergehende Veränderung der Persönlichkeit zu kämpfen. Ich bin mir beinahe sicher, dass sein freiwillig gewählter Tod auf eine nur ihm logisch erscheinende Art auch als Akt der Liebe gegenüber seiner Frau und seinen Kindern gedacht war. Er wollte und das Leid ersparen, dass er selbst erlebt hat. Was er dabei nicht bedacht hat, ist das er so noch viel größeres Leid hervorgebracht hat als er es sich je hätte vorstellen können.
Mit meinem heutigen Wissen über Schmerzen, Schlafmangel, Diabetes und Depression bin ich mir ziemlich sicher, dass sein schlechtes Gedächtnis vermutlich einfach mit diesen Faktoren im Zusammenhang stand und noch kein Grund zur Besorgnis waren. Wie gerne würde ich in der Zeit zurück reisen und ihm das erklären (und ihn zu einer Schmerz- und Psychotherapie und einem Besuch bei einer Neurologin/ einem Neurologen überreden).
We don't talk enough
We should open up
Before it's all too much
Will we ever learn?
We've been here before
It's just what we know
Gestern wurde mir auf ziemlich eindrucksvolle Weise wieder vor Augen geführt welche Kraft in Musik steckt und ich wollte diese Erfahrung gerne mit euch teilen. Interessanterweise ist der Tod meines Vaters ein Thema mit dem ich mich länger nicht beschäftigt habe, das jetzt aber regelmäßig wieder an die Oberfläche kommt. Vermutlich weil noch etwas aufgearbeitet gehört - obwohl ich dachte, dass ich das bereits getan hätte. Da Schreiben für mich eine unglaublich gute Art und Weise ist Dinge aufzuarbeiten, war das vermutlich noch nicht der letzte Beitrag zu dem Thema. Solltest du dich aktuell auch in einer psychisch herausfordernden Situation befinden oder sogar suizidgefährdet sein, dann rate ich dir, dich jemand anzuvertrauen oder dir professionelle Hilfe zu suchen - eine gute Auflistung von Anlaufstellen gibt es hier.
Gibt es in deinem Leben Songs die dich berührt haben? Wenn ja, welche sind es und was lösen sie in dir aus? Hast du selbst Erfahrungen mit Suizid gemacht? Tausch dich gerne mit mir aus. Falls du Fragen an mich hast, dann melde dich gerne. Ich würde mich freuen, wenn du mir einen Kommentar hinterlässt.
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